Du bist nicht meine Mutter!

Der Übertritt meiner Tochter in die Grundschule bringt neue Gesichter zu uns nach Hause. Ich höre Geschichten von Mädchen, die ich nicht kenne, fremde Namen fallen. An einem Nachmittag lädt mein Kind drei neue Freundinnen ein. Wir sitzen beim Mittagessen, die Stimmung ist gut, wir lachen viel und ich versuche, die neuen Mädchen ein wenig kennenzulernen, um mir ein Bild zu machen, mit wem meine Tochter ihre Zeit verbringt.

Die Mädels spachteln fleißig ihr Essen in sich rein, und ich freue mich, dass es kein Gemecker gibt. Alle essen Gemüse, und der Salat wird auch nicht verschmäht. Unkompliziert: perfekt!

Dann aber ist ein Kind fertig, steht vom Tisch auf und schlägt ein Rad in meinem Wohnzimmer. Ein Rad … In meinem Wohnzimmer … Beim Mittagessen … Perplex bitte ich sie, sitzenzubleiben und darauf zu warten, dass ihre Freundinnen auch mit dem Essen fertig sind. Das ist so eine Regel bei uns: Kinder warten auf Kinder. Als Reaktion auf mein Anliegen baut sich dieses sechsjährige Mädchen vor mir auf, stemmt die Hände in die Hüften und sagt: „Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist schließlich nicht meine Mutter!“ Wortwörtlich.

Das ist zu viel. Die anderen Kinder schweigen, kein Mucks ist zu hören. Gebannt scheinen sie auf meine Reaktion zu warten. Tatsächlich muss ich kurz schlucken. Ich bin keine weichgespülte Mutter, die alles durchgehen lässt. In unserer Familie gibt es klare Regeln, an die sich alle zu halten haben. Eltern und Kinder. Und das verlange ich auch von den Freunden meiner Kinder. Nun ist dieses neue Mädchen aber zum ersten Mal bei uns zu Hause und ich will unter keinen Umständen peinlich für meine Tochter werden. Irgendwie schaffe ich es, das Kind einzufangen und es dazu zu bewegen, sich nochmals an den Tisch zu setzen. Und dann beginne ich, eine Geschichte zu erzählen, die ich erlebt habe als ich klein war.

Ich war zehn und kam auf eine neue Schule. Groß war sie, fast 1.000 Schüler wirbelten auf den Gängen und dem Schulhof um mich herum. Meine Klassenkameraden und ich fühlten uns klein, so klein. Respektvoll blickten wir hoch zu den „Großen“. Beinahe 18 waren sie, sie hatten die Schule schon fast hinter sich. Ehrfürchtig waren wir. Ein paar Jahre später dann waren wir ganz oben, die Großen. Um uns schwirrten kleine Fünftklässler, die wir „süß“ fanden – und wir konnten uns gar nicht mehr vorstellen, dass wir auch mal so mini waren. Leider war von Respekt nicht mehr viel zu spüren. Im Gegenteil: Frech waren sie, gingen einem nicht aus dem Weg, schmissen mit Wörtern um sich, die man lieber nicht hören will. Der Höhepunkt war, als ich mir, mein Fahrrad schiebend, den Weg durch die Fünftklässlermenge bahnte und um Durchgang bat. Tatsächlich spuckte ein Junge auf den Boden und trat mit dem Fuß gegen mein Rad. Das hätte ich mich früher nie getraut.

Diese Geschichte erzählte ich also am Mittagstisch. Als ich geendet hatte, stand ich wortlos auf und ging in die Küche. Die Mädchen kicherten und redeten. Was, das habe ich nicht verstanden.

Heute, Jahre später, sitzt das radschlagende Mädchen immer noch bei uns am Mittagstisch. Unhöflich war es seither nie wieder – es ist die beste Freundin meiner Tochter geworden.

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